Kindheit

von Tove Ditlevsen, Lesung

22.06.2023, Nachtasyl


“Am Morgen war die Hoffnung da. Sie saß als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter, das ich nie zu berühren wagte, und sie lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei, den ich langsam verspeiste, während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete, die reglos auf den Zeitungsberichten über die Spanische Grippe und den Versailler Vertrag ruhten. Mein Vater ging arbeiten, mein Bruder in die Schule. Also war meine Mutter allein, obwohl auch ich da war, und wenn ich mich nicht rührte und nichts sagte, konnte die ferne Ruhe in ihrem seltsamen Herzen andauern, bis der Vormittag alt wurde und sie auf die Istedgade zum Einkaufen gehen musste wie die gewöhnlichen Hausfrauen.”


Toves autofiktionaler Roman (der erste Band ihrer “Kopenhagen-Trilogie”) beschreibt ihr Aufwachsen als intelligente und hochsensible Tochter einer Arbeiterfamilie im Kopenhagen der 20er Jahre. Dem frühen Ruf, Schriftstellerin zu werden, folgt sie durch die sexistischen und klassistischen Widerstände der Zeit. Ihr Schreiben ist geprägt von einer reduzierten, poetischen Sprache, von vielschichtigen Figurenzeichnungen und von einem trockenen und liebevollen Humor. Tove seziert in schärfsten und hochmodern anmutenden Beobachtungen die Gesellschaft, die zerstörerischen Abreibungen toxischer Strukturen auf die nachwachsende Generation, die bigotte Sexualmoral ihrer Zeit, das Arbeiter:innenmilieu ihres Kopenhagens.

Mit ihrer Autobiografie schrieb sich Tove in den sechziger Jahren aus einer schweren Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit heraus. Dieser Modus der Selbstfürsorge und der Selbst(wieder)findung durch die Selbstbeschreibung interessierten uns. Darüber hinaus geht Toves Schreiben extrem nah. Neben dem Konkreten und präzise gefassten Eigenen zieht sich auch immer das Allgemeine, Vertraute durch ihre Texte.

So haben wir in großer Sorgfalt eine Fassung erstellt, die bei einer Dauer von ca. 85 Minuten den gesamten ersten Band umfasst. Dabei haben wir unseren Fokus darauf gelegt, Toves Tonfall und ihrer poetisch-dichten Sprache gerecht zu bleiben. Das Zusammenspiel der Stimmen von Gesa Geue und Felix Knopp trägt diese Sprache behutsam und in der gewählten Form der nahtlosen Textaufteilung wurde es möglich, den spezifisch weiblich-perspektivischen Stoff gemeinsam und aus einem Atem heraus zu sprechen.


Mit:
Gesa Geue
Felix Knopp
Regie: Woody Mues

Bühne: Antonia Kamp
Kostüm: Daniel Goergens
Dramaturgie: Elvin Ilhan

Fotos: Yelda Yilmaz